Dr. Juri Kijko
Nationale Universität Czernowitz, Ukraine
In der modernen
kommunikativen Welt dominieren zunehmend globale und internationale Themen wie
Finanzkrise, Terrorismus, Umweltprobleme u.a. Nach N. Luhmann (Luhmann 1991)
hat sich die Menschheit schon längst in eine allgemeine kommunikative
Gesellschaft umgewandelt, wo alle Akteure eng miteinander verbunden und
voneinander abhängig sind. Eine enorme Rolle spielen dabei die nationalen
Massenmedien, die nicht nur über lokale und nationale, sondern auch
über internationale politische, wirtschaftliche und kulturelle Ereignisse
informieren.
Interkulturelle Vergleiche,
die in den letzten Jahrzehnten aktiv vorgenommen werden, bieten die
Möglichkeit, theoretische Konzepte und Messverfahren auf ihre
kulturspezifische, kulturübergreifende und universelle Gültigkeit hin
zu überprüfen. In diesem Beitrag gehen wir von einer Hypothese aus,
dass die gegenwärtigen Medien in zwei demokratischen Sprachkulturen das
Lesepublikum über dasselbe Weltereignis gleich informieren sollten.
Das Ziel dieser Studie ist es, sprachkulturelle
Unterschiede bei der Gewichtung eines Ereignis im deutschen und ukrainischen
Pressediskurs zu ermitteln. Als Untersuchungsmaterial gelten die in beiden
Pressediskursen renommierten Tageszeitungen die Berliner Zeitung und Den’,
die in den Hauptstädten herausgegeben werden. Analysiert wurden auch andere
Druckmedien wie die taz, die FAZ, Frankfurter Rundschau u.a., die
über dasselbe Ereignis berichteten.
Beim
Vergleich haben wir uns für eine bestimmte Pressetextsorte
entschieden, die in beiden Pressekulturen vorhanden ist (vgl. Pressetextsorten
2005). Man geht davon aus, dass Textexemplare einer Textsorte in beiden
Diskursen auch eine gleiche Rolle spielen sollten (vgl. Spillner 1981). Als
solch eine Textsorte wurde der Zeitungsbericht ausgewählt, der aus unserer
Erfahrung zu den hochfrequenten Pressetextsorten in modernen Zeitungen
gehört. Unter dem Bericht verstehen wir einen erweiterten
informationsbetonten Zeitungsartikel, in dem der Adressant den Adressaten
über eine Tatsache u.ä. berichtet, indem man die so genannten
W-Fragen beantwortet: wer, was, wo, wann, wie, warum (vgl. Burger 2005;
Lüger 1995 u.a.).
Gemeinsam für die zu
vergleichenden Texte sind nicht nur die allgemeine Situation und die
Darstellungsform, sondern auch das Thema der
Berichterstattung. In den Berichten informiert man die Leser beider
Sprachkulturen über die offizielle Eröffnung der Ostseepipeline, die
ermöglicht, Gas aus Russland direkt nach Westeuropa durch die Ostsee zu
transportieren. In den Artikeln sind die Interessen der deutschen und
ukrainischen Gesellschaft angesprochen, was auch sprachlich zum Ausdruck
gebracht werden sollte.
Die untersuchten Berichte in
der Berliner Zeitung und Den’ erschienen relativ gleichzeitig:
der deutsche am 8. November 2011 und der ukrainische einen Tag später am 9. November 2011. Die beschriebene
offizielle Eröffnung der Pipeline fand am 8. November 2011 in Lubmin
(Mecklenburg-Vorpommern) statt. Also im deutschen Diskurs handelt es sich um
einen vor dem Ereignis gefassten Artikel, was im Text in nominaler Deixisphrase
am heutigen Dienstag verbal ausgedrückt wird. Im ukrainischen Fall
handelt es sich dagegen um einen nach dem Ereignis gefassten Artikel, was sich
in der deiktischen Koordinate ó÷îðà (de. gestern)
manifestiert. Die Journalisten der untersuchten Berichte waren persönlich
an der beschriebenen Eröffnung nicht beteiligt. Sie benutzten also vor
allem Daten der nationalen und internationalen Presseagenturen. Nach dem
Erscheinen dieser Berichte ließen die jeweiligen Redaktionen keine
weiteren Artikel zu diesem Thema veröffentlichen.
Der Bericht in der Berliner
Zeitung erschien im Ressort Politik auf Seite 6 oben zentriert und nimmt
ca. 50% der gesamten Seitenoberfläche (499 Wortformen) ein. Dadurch weist
die Redaktion auf die relative Wichtigkeit des Ereignisses hin, wobei auf der Titelseite
aber keine Hinweise auf den Artikel zu sehen sind. Das kann davon zeugen, dass
die deutsche Redaktion dieses Ereignis für ein zweitrangiges hält.
Zum wichtigsten Thema an dem Erscheinungstag zählte man das
innenpolitische Ereignis in Deutschland: Blockade der Steuerreform von A.
Merkel durch die SPD. Diesem Thema sind der Leitartikel, das Kommentar und eine
Reihe von weiteren Artikeln gewidmet. Als das international wichtigste Thema an
diesem Tag gilt ein Photoartikel über den chinesischen Künstler Ai
Weiwei, der für seine Regierungskritik ein
enorm hohes Bußgeld zahlen soll. Als wenig wichtiger ist die Finanzkrise
in Griechenland und Italien eingestuft, über die nur eine kurze Meldung
auf der Titelseite gemacht wurde.
Die ähnliche Gewichtung des untersuchten Ereignisses
ist auch in anderen deutschen Druckmedien zu sehen. Zum Beispiel, die
überregionale Tageszeitung Frankfurter Rundschau, die zusammen mit
der Berliner Zeitung eine gemeinsame DuMont-Redaktionsgemeinschaft hat,
veröffentlicht denselben Artikel wie in der Berliner Zeitung, aber
mit einigen Änderungen im Initialteil. Die Redaktoren der Frankfurter
Rundschau fügen nur einen gemeinsamen Obertitel Energiesicherheit
und eine Headline-Meldung hinzu: Deutschland und Russland feiern ihr
großes gemeinsames Projekt. Die Nachbarn der Unterwasser-Röhre
fühlen sich ausgeschlossen. Durch den neu eingeführten Obertitel
wird der wirtschaftliche Schwerpunkt dieses bilateralen Projekts hervorgehoben,
wobei in der Headline-Meldung Emotionalität zu spüren ist.
In einem anderen Printmedium die tageszeitung
(taz), das man für ein unabhängiges linksorientiertes Medium
hält, wurden eine Meldung und zwei Berichte im Ressort Schwerpunkt
auf der vierten Seite am 8. November 2011 gedruckt. Alle diese Artikel haben
einen gemeinsamen Obertitel Energie und eine Headline-Meldung über
das Ereignis. In dem einen Bericht geht der Korrespondent aus Moskau auf die
Charakteristik des russischen Konzerns ein. Der Bericht hat eine symbolische
Überschrift Das Rohr zum Westen und ist mit einem thematischen Foto versehen. Auf dem
Foto sieht man einen Schlepper mit dem nach Westen gerichteten Rohr. Solche
Schlepper transportieren militärische Raketen und können beim Leser
bestimmte Assoziationen hervorrufen: eine davon ist die Eroberung des Westens
mit Gas als Waffe. In dem anderen Bericht wird die wirtschaftliche Situation
mit Gasversorgung Deutschlands sehr detailliert beschrieben. Auffällig
ist, dass beide Artikel der taz sehr kritisch im Vergleich zu anderen
deutschen Druckmedien sind. Viele Zeitungen ließen dieses Ereignis
einfach außer Acht. Die FAZ zum Beispiel veröffentlichte zu
diesem Anlass nur einen Porträt-Artikel über den Vorsitzenden des
Gasproms auf der Seite 16 im Ressort Unternehmen.
Im Unterschied zum deutschen Pressediskurs hat die offizielle
Eröffnung der Pipeline im ukrainischen Diskurs mehr Resonanz
hervorgerufen. Dieses Ereignis gehört zu den wichtigsten
außenpolitischen Nachrichten am Erscheinungstag. Davon zeugt das
Platzieren des Artikels in den Zeitungen. In der Den’ bekommt der Leser
schon auf der Titelseite eine Ankündigung über dieses Ereignis. Das
ist der visuell hervorgehobene Titelblock des Berichtes im unteren Teil der
Titelseite. Der weitere Text des Berichtes findet der Leser auf Seite 5 im
Ressort Wirtschaft, worauf explizit mit der Substantivgruppe ïðîäîâæåííÿ òåìè íà 5-é ñòîð³íö³ (de. Fortsetzung des Themas auf Seite 5)
hingewiesen wird. Der Bericht des ersten Wichtigkeitsgrades an diesem Tage ist
wie auch im deutschen Diskurs die innenpolitische Situation. In quantitativer
Hinsicht ist der ukrainische Bericht etwas kürzer als der deutsche – 461
zu 499 Wortformen. Also im ukrainischen Pressediskurs im Unterschied zum
deutschen wird die Eröffnung der Ostseepipeline als das wichtigste
wirtschaftliche Ereignis eingeschätzt.
Die kontrastive Analyse der untersuchten Zeitungsberichte
über ein international wichtiges Ereignis im deutschen und ukrainischen
Pressediskurs erlaubt folgende Feststellung. Die deutschen und ukrainischen Druckmedien spiegeln auch heute national geprägte Perspektiven durch unterschiedliche Gewichtung desselben internationalen
Ereignisses wider.
Acknowledgements
This project was made possible by a generous research grant from the
Alexander von Humboldt Foundation. I am heartily thankful to my supervisor,
Prof. Dr. Norbert Fries, HU Berlin, whose encouragement, guidance and support
from the initial to the final level enabled me to develop an understanding of
the subject.
1. Burger
H. Mediensprache: Eine Einführung in Sprache in Kommunikationsformen
der Massenmedien. 3. Aufl. –
Berlin, New York : de Gruyter,
2005. – 485 S.
2. Luhmann N. Die Weltgesellschaft. In: Soziologische Aufklärung 2.
Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. – Opladen : Westdeutscher Verlag,
1991. – S. 57–71.
3.
Lüger H.-H. Pressesprache. – Tübingen : Niemeyer, 1995. – 169 S.
4. Pressetextsorten im
Vergleich – Contrasting Text Types in the Press / Hrsg. von H. Lenk, A.
Chesterman. – Hildesheim, Zürich, New York : Georg Olms Verlag, 2005. –
387 S.
5. Spillner B.
Textsorten im Sprachvergleich. Ansätze zu einer kontrastiven Typologie.
In: Kontrastive Linguistik und Übersetzungswissenschaft / Hrsg. von W.
Kühlwein, G. Thome, W. Wills. – München : Fink Verlag, 1981.
– S. 239–250.